Sieger Land

Im Sieger Land regnet es. Immer. Außer wenn Kinderbuch-Autoren dort lesen. Das zumindest sagt der Buchhändler schon im Voraus. Ich steige um halb fünf Uhr früh in den Zug, um für einen Tag nach Siegen zu fahren, zu Hugendubel. Es ist eine Schnapsidee, für einen Tag nach Siegen zu fahren, denn es dauert acht Stunden hin und acht Stunden zurück. Aber Hugendubel wollte unbedingt, das ich komme. Einen Hugendubel stelle ich mir als eine Art großes Tier mit flauschigem Bommelschwanz vor. Vielleicht schielt es. Ich weiß, es ist eine Buchhandlungskette, aber ich kann mich nicht gegen diese Vorstellung wehren. Ich steige fünf mal um und trinke jedesmal einen starken Kaffee. Es hilft nichts, ich fühle mich gerädert. Aber für so ein flauschiges Hugendubel tue ich eben alles. Als ich in Siegen ankomme, scheint die Sonne. Hugendubel ist kein flauschiges Tier, sondern ein Stück von einem Einkaufscenter, in dem jemand die Sauerstoffzufuhr auf ein Minimum reduziert hat. Die Sonne scheint nur außerhalb des Einkaufscenters. Im Hugendubel scheint sie nicht, und deshalb sind dort auch keine Kinder. Der Buchhändler macht ein bedauerndes Gesicht und füllt mich mit noch mehr Kaffee. Bei Regen ist das Einkaufscenter ganz voll, beteuert er, und auch der Hugendubel. Ich setze mich auf ein rotes Sofa und warte. Es gibt noch drei rote Sofas, hübsch im Viereck gestellt. Auf einem sitzen drei übergewichtige Kinder und unterhalten sich über Spiderman und ihre Lieblingszigaretten. Das rote Sofa ist das soziale Zentrum von Siegen, erklärt der Buchhändler. Man setzt seine Kinder dort ab, wenn man im Zenter einkaufen geht. Manche Kinder setzen offenbar auch ihre Erwachsenen dort ab. Ich erkundige mich, wer von den Sitzern zur Lesung gekommen und wer nur zufällig da ist. Das hätte ich nicht tun sollen. Ich habe einen Lesungsgast. Vielleicht lügt er, damit ich nicht traurig bin, und ist auch nur zufällig da. Drei der jungen Angestellten kommen in letzter Minute, und ich frage sie, ob sie auch da sitzen, damit ich nicht traurig bin. Nö, sagen die drei. Wir sitzen hier, weil wir keine Lust haben, zu arbeiten. „“Ich habe auch keine Lust, zu arbeiten““, sage ich und setze mich zu ihnen. Doch der Buchhändler guckt mich an, und so stehe ich wieder auf. Bei uns sitzt noch ein Junge mit einem Buch, das eindeutig nicht von mir ist. Ich erkläre ihm, dass ich jetzt lesen werde, und zwar laut, und dass er entweder zuhören oder mit seinem Buch woanders hingehen kann. Er möchte aber lieber sitzen bleiben und da weiterlesen, und das tut er auch. Ich bin beeindruckt. Natürlich lese ich. Ich lese gegen den Lärm der Laufkundschaft und den Lärm des Einkaufscenters an. Ich lese laut, ich lese leise, ich lese mich heiser – mein einziger Gast und die drei übergewichtigen Kinder hören mir eisern zu. Es sind drei sehr nette übergewichtige Kinder. Sie sollten einen Orden vom Buchhändler bekommen. Vier junge Japanerinnen setzen sich auf eines der Zuhörer-Sofas und vertiefen sich in ihre Manga-Bände. Ich lese. Eine alte Dame geht an mir vorbei, nimmt Platz, kämmt ihre Dauerwelle und geht wieder. Ich lese. Jemand führt einen kleinen Hund zwischen den Sofas spazieren. Ich lese. Als Peter Schwindt hier gelesen hat, sagt der Buchhändler, schien draußen auch die Sonne. Da war es genauso leer. Aber bei Jenny May-Nuyen war es ganz voll, fügt er schnell hinzu. Sie mussten den Tisch woanders hinrücken, wegen des Platzmangels. Mit Tischerücken kenne ich mich nicht aus. Ich bin eben nicht Jenny. Peter Schwindt sagt immer, ich hätte einen Minderwertigkeitskomplex. Ab heute werde ich den Minderwertigkeitskomplex mit ihm teilen. Minderwertigkeit ist eine komplexe Sache, sowas sollte man nicht für sich alleine beanspruchen. Abends übernachte ich in Berlin bei meinem Bruder, weil ich den letzten Anschlusszug um eine halbe Stunde verpasse. Sein Nachbar schmeißt eine Party, und dort treffen wir ein blondes Mädchen aus Siegen. Sie ist mit 15 per Anhalter von dort abgehauen und nie wieder zurückgekehrt. Vielleicht nicht nur, aber sicher auch wegen des schlechten Wetters. Denn im Sieger Land regnet es. Immer. Außer wenn Kinderbuch-Autoren dort lesen.