Aufgeweckt

Eines Tages kaufe ich am Bahnhof einen kleinen roten Wecker samt neuer Batterie.
Ich bin für meine einfache Planung bekannt – daher lese ich in Stuttgart und schlafe in München, weil ich da später auch lese … Ich stelle den Wecker auf halb sechs. Als ich aufwache, zeigt er fünf vor zwölf. Durch die Fenster fällt blauweißes Münchner Morgenlicht. Moment! Ich konsultiere den Computer. 6.30. Vor zehn Minuten ist mein Zug gefahren. Ich fluche, springe in meine Kleider und renne los. Zwei Schals und viel wirres Haar flattern mir malerisch nach.
Der nächste Zug nach Stuttgart fährt in einer Stunde. Ein Taxi von München nach Stuttgart kostet doppelt so viel, wie ich in Stuttgart verdiene. Nicht, dass ich geizig bin … aber eigentlich ist das Taxi ja auch nicht schneller, oder? Ich stopfe Münzen in ein rosa Telefon, das laut gähnt. Es ist zu früh. Zu früh für die Veranstalter, zu früh für den Verlag, zu früh für meine Eltern. Ich versuche die Bundeskanzlerin und den Papst. Endlich erreiche ich meinen Bruder.
“Was tust du in der Leitung?”, fragt er. “Es ist zu früh …”
“Nein, zu spät!”, keuche ich. “Du musst sie anrufen! Mein Wecker … ich habe den Zug verpasst, und in Stuttgart warten die Kinder …”
“Ganz ruhig – wen muss ich anrufen?”, fragt mein Bruder.
“Ach, irgendwen!”, rufe ich. “Die Stuttgarter! Den Verlag! Die Bundeskanzlerin! Den Papst!”
“Ich glaube, der Papst hat kein Telefon”, sagt mein Bruder. Ich lege auf.
Ich rufe meine alte WG an.
“Hilfe!”, schreie ich ins Telefon. “Mein Wecker hat den Papst verpasst, und die Bundeskanzlerin liest in Stuttgart im Zug! Ruf meine Eltern an!”
In Stuttgart begrüßt mich eine verwirrte Veranstalterin. “Die Kinder warten brav”, sagt sie. “Nur wieso rufen dauernd der Vatikan und das Auswärtige Amt hier an?”
Abends, in München, werfe ich den Wecker weg. Kaum bin ich eingeschlafen, macht es neben mir: “Psssst!” Ich schrecke auf. War das schon der Hotelweckruf? Unmöglich. Ich sehe unters Bett. Doch dort liegt kein Terrorist, der “psst” gemacht hat. Ich schließe die Augen wieder. “Psssst!”, macht es. Ich werde wahnsinnig – das muss es sein.
Gegen 5 Uhr morgens stelle ich fest, dass das “Pssst!” aus dem Papierkorb kommt. Dort finde ich unter alten Taschentüchern – richtig: den kleinen roten Wecker.
“Psssst!”, kräht er. Dabei können Wecker gar kein solches Geräusch machen. Ich öffne das Fenster und werfe ihn hinaus. Er landet auf einem Auto. Die Alarmanlage springt an. Die Polizei nähert sich mit Sirenen. Von dem Lärm stürzt das Bordell gegenüber ein. Ein Graben tut sich in der Schillerstraße auf und verschlingt mehrere Dönerbuden. Ein Hubschrauber kreist über dem Chaos. Bewaffnete Spezialeinheiten rücken an. Vielleicht gelingt es denen, meinen Wecker zu entschärfen. Ich gehe wieder ins Bett und schlafe endlich sehr, sehr gut.