1. Kapitel:
OLIVEN- UND ZITRONENBLÄTTER

Er fragte sich später, weshalb er nie hier gewesen war. Weshalb sie nie zusammen hergekommen waren. In all den Jahren. Er war fünf gewesen, als er das Dorf zuletzt gesehen hatte. Und er erinnerte sich nicht. An nichts.
Jetzt war er achtzehn.
Die Wellen waren grau. Wer hatte nur die Schaumkronen erfunden? Sonnenbeschienene, strahlend helle Schaumkronen, die sich auf den Wogen überschlugen, die Schaumkronen all jener Romane? Es gab sie ja gar nicht.
Er schlug seinen Kragen hoch und duckte sich unter dem leisen Nieselregen, der still in den Märznachmittag fiel. Das Fischerboot, das vom Bodden hereinkam, war nicht bunt angestrichen, die Möwen nicht weiß. Die Fischer in ihrer Ölkleidung dachten nicht an die Weite des Meeres und die Unendlichkeit des Himmels. Sie dachten, er sah es genau, an die nächste Zigarette.
Er schloss den obersten Knopf seiner Regenjacke und kehrte dem zu realen Meer den Rücken, schlenderte entlang der Mole zurück, die Hände tief in den Taschen vergraben.

»Dies ist der Ort meiner Kindheit«, sagte er laut. Was für eine lächerliche Formulierung. Es gab ein paar Bilder von seinen Eltern und ihm, hier am Strand und vor dem Haus, das war alles. Und der Ort seiner Kindheit war nicht dieses Dorf an der Ostsee. Die Orte seiner Kindheit lagen in England, weit von der Küste entfernt, dort, wohin sie gegangen waren, als er gerade fünf Jahre alt war. Seitdem hatten sie jedes Jahr Großelternbesuche in Deutschland gemacht, in Schwerin und Potsdam. Aber das Dorf, in dem seine Eltern bei seiner Geburt gelebt hatten, hatte er nie gesehen.
Das Dorf war – Deutschland war – nur der erste Punkt auf seiner Reise durch Europa, er hatte die Schule beendet und beschlossen, alles zu sehen, was es in Europa zu sehen gab. Berlin, Paris, Prag oder so ähnlich. Er hatte lange genug gejobbt, um sich dieses Reisejahr zu verdienen, er war achtzehn, und die Welt stand offen wie ein Tor. Aber zuerst war er hierhergekommen, in dieses Dorf, als müsste er hier den Anfang machen, weil die Welt ihren Anfang mit ihm hier gemacht hatte. Mit dem Kind, dem Menschen Johann Fin Paul Smith. Und auf eine merkwürdige Weise hatte er geglaubt, hier etwas zu finden, das er irgendwo verloren hatte. Noch wusste er nicht, was es war.
Doch er begann, es zu ahnen: die Wahrheit.