„Du siehst mich an“, sagte er. Lucinda zuckte zusammen und sah schnell woanders hin – aber dann fiel ihr auf, wie unsinnig das war.
„Woher weißt du das?“, fragte sie.
„Ich kann es fühlen“, sagte der blinde Junge. „Ich fühle deinen Blick auf meinem Gesicht. Was denkst du?“
„Oh – nichts, ich ...“ Welch ein Glück, dass er nicht sehen konnte, wie rot sie wurde. Hätte sie sagen sollen: Ich dachte darüber nach, dass du merkwürdig normal aussiehst für Berlin Mitte?
Er lächelte. „Ich würde auch niemandem sagen, was ich denke.“
Wieder strich er mit der Hand über das Bild vor ihm.
„Was … was tust du da?“, fragte Lucinda zögernd und ging neben dem Jungen in die Hocke, um nicht andauernd von oben herab mit ihm zu sprechen.
„Ich sehe mir das Bild an“, erklärte er ganz selbstverständlich. „Ich kann die Farben fühlen – genau wie deinen Blick.“
„Die Farben?“, Sie schüttelte unwillig den Kopf. Das war zu absurd.

„Versuch es“, sagte er. „Gib mir deine Hand. Du wirst sehen.“
Lucinda dachte noch, wie unsinnig die Bemerkung aus seinem Mund klang, da hatte er ihre Hand bereits ergriffen. Hatte sie sie ihm gegeben? Sie konnte sich nicht erinnern. Seine Finger waren rau und rissig. Sie hatte sich die Finger eines Blinden immer anders vorgestellt. „Schließ die Augen!“, befahl er. Lucinda gehorchte. Unter ihrer Handfläche spürte sie die trockene Ölfarbe – so rau und rissig wie die Finger des seltsamen blinden Jungen.
„Grün“, sagte er. „Und Gelb. Spürst du es? Und das hier ist Rot.“
„Ich … ich glaube, Rot ist bröckliger. Wie Erde“, sagte Lucinda.
„Gut. Und das?“
„Blau?“, riet sie.
Er lachte. „Du würdest eine gute Blinde abgeben.“
„Danke“, sagte sie und öffnete die Augen. „Aber ich wollte eigentlich etwas anderes werden.“