Der Regen ließ nicht nach. Die Nacht wurde lautlos älter.
Und Amber sehnte sich. Sie sehnte sich danach, unten bei dem Jungen in dem Zelt zu sitzen, in der Wärme. Sie könnte ihm über die Schulter sehen. Mit ihm das Buch lesen. Plötzlich war sie sich sicher, dass er nichts dagegen hätte. Dass er – ein verrückter Gedanken – dass er auf sie wartete.
Und schließlich drehte sie sich um und begann, die Stufen hinabzusteigen. Zuerst langsam, in der Dunkelheit tastend … rascher, zügig jetzt, ihre Füße hatten den Abstand der Stufen gelernt wie ein Gedicht … und schließlich, auf dem letzten Treppenabsatz, rannte sie. Sie flog. Sie wusste nicht, was sie zu dem Jungen im Zelt sagen würde, sie wusste nur, dass sie zu ihm musste, dass sie IN DIESES ZELT MUSSTE.
Sie rannte den Flur entlang bis zur Tür, die zum Hinterhof führen musste, fürchtete einen Augenblick lang, die Tür wäre abgeschlossen – stieß sie auf. Trat in den Hof.
Gleich, gleich würde sie den Reißverschluss des rot-gelben Igluzeltes von außen öffnen, sich bücken, hineintauchen in das warme Licht, geborgen sein. Sicher vor allen Gefahren, vor Hunger und Kälte und Zweifeln.

Sie ging zwei Schritte, drei, vier, torkelte hinaus in den Regen, außer Atem vom Rennen.
Es war heller hier, heller als im Flur. Aber es war nur die gleiche schmutzige Stadthelligkeit, die schon die Regenfäden am Fenster oben beleuchtet hatte.
Sie drehte sich um ihre eigene Achse, den Blick sinnlos zu den vielfenstrigen Wänden erhoben, die den Hinterhof säumten wie einen Brunnenschacht. Die Fenster waren alle nachtblind.
Da war kein Zelt.
Amber stand ganz alleine mitten im Hof.

(…) Sie seufzte und wollte sich auf den Boden setzen, so dicht an die Heizung wie möglich. Dort lag etwas. Ein weißer, unfrankierter Umschlag, der am Morgen ganz bestimmt noch nicht da gewesen war. Sie riss ihn auf und zog ein Blatt Papier heraus. Es war gerade hell genug, um die Kugelschreiberworte darauf zu lesen. Großbuchstaben.