1. Kapitel,
in dem ein Papierpferd flieht und Pfannkuchen mit Tomatensauce und Schokolade vorkommen

Anna sah das Pferd zuerst.
Sie sah, wie es entstand.
Am Anfang war nur sein Kopf da: zurückgeworfen, ein wenig wild, ein wenig eigensinnig. Nervös spielende Ohren. Leicht geblähte Nüstern. Dann kam der Hals, elegant geschwungen. Dann die Mähne, flatternd im Wind.
Das Pferd galoppierte. Es galoppierte über das Papier eines linierten Schulheftes. Sein Schweif fegte über die krakelige Überschrift „Das Leben der Heuschrecke“, es versuchte eindeutig, den Heftrand zu erreichen. Zu entkommen.
Vielleicht, dachte Anna, wäre es gerne durch das Fenster hinaus galoppiert in den warmen Sommertag. Über die Wiesen vor dem Schulhaus, den kleinen Pfad an der Steilküste entlang, über dem Meer. Und schließlich zum Wald.
„Malst´n da?“, fragte Stefan, und Anna zuckte zusammen.
Die Frage war nicht an sie gerichtet. Zum Glück, denn sie hasste es, wenn jemand sie etwas fragte.
Es war Tariq, der das Pferd in sein Heft gemalt hatte. Tariq, der vor ihr saß.

 

„Nee, echt jetzt, ´n Gaul, oder was?“, fragte Stefan und lachte.
Tariq drehte den Kopf und sah Stefan an.
Anna sah, wie er die Augen zusammenkniff. Er hatte dunkle Augen mit einem wilden Ausdruck wie die des Pferdes. Und stets verstrubbeltes schwarzes Haar und einen Riss im Hemd, an der Schulter.
„Das ist Pferd“, erklärte Tariq leise und bestimmt.
„Gaul, Pferd, alles eins“, sagte Stefan. „Seit wann kritzelst du sowas in dein Heft? Bist du´n Mädchen?“
Jannis hörte auf, Das Leben der Heutschrecke von der Tafel abzuschreiben und guckte ebenfalls rüber. „Süß“, sagte er. „Kann ich´s rosa ausmalen?“
„Lass mich Ruhe“, sagte Tariq. „Das ist mein Pferd. Ist echt.“
Stefan und Jannis sahen sich an und prusteten los.
Aber Anna verstand, was Tariq meinte. Das Pferd war echt. Es sah aus, als könnte es aus dem Heft springen. „Ist von da, wo ich wohne“, sagte Tariq.
Jetzt hatte sich auch Simone umdreht. „Das Pferd ist aus dem Kinderheim?“, fragte sie.
Tariq schnaubte, „Pferd ist von Afghanistan.“