Für Elise

Liebe leidgeprüfte Kollegen, ihr kennt alle die wichtigsten Fragen bei einer Lesung. Erstens: Kann ich mal aufs Klo? Zweitens: Kriege ich ein Autogramm?
Denn auch der letzte, der je ein Buch lesen würde, braucht dringend ein Autogramm, oder am besten fünf! “Für meinen Vater, meine Mutter, meinen Großvater … und können sie hier FÜR ELISE draufschreiben?”
“Ist Elise deine Schwester?”, frage ich. “Nein! Elise ist mein Meerschweinchen.”
Das klärt die Frage, was mit der Schwemme von Autogrammzetteln geschieht. Ich hatte schon befürchtet, sie würde irgendwann als Lawine das Land überrollen, aber die Meerschweinchen dieser Welt fressen sie säuberlich auf. Man ist erleichtert.
Vor kurzem reichte die Zeit in einer Schule nicht für die Fragen. “Schreibt die Fragen einfach auf!”, sagte ich leichthin. “Ich beantworte sie bis morgen und signiere die Bücher vom Büchertisch dann ganz in Ruhe …”
Ganz in Ruhe signierte ich am Küchentisch der Direktorin 156 Bücher und 419 Zettel. Am nächsten Tag schrieb ich in 215 Bücher und auf 897 Fragezettel. Auf 412 Zetteln stand: “Kann ich mal aufs Klo?”
Bei der folgenden Lesung in der Buchhandlung mochte ein Herr meine Unterschrift nicht. “Können sie ihren Vornamen nicht ausschreiben?”, fragte er indigniert.
“Nein”, sagte ich, “ich kann gar nicht schreiben.”
Am dritten Tag zog ich zu einer anderen Familie, unterschrieb dort einen drei Meter hohen Bücherstapel sowie zwei Poesiealben und gab ein Schülerzeitungs-Interview. Ob sie ein Foto machen dürften, von den beiden Töchtern des Hauses und mir? Ich nickte. Kann ich ahnen, dass das Bild in achtfacher Ausführung gedruckt, laminiert und signiert werden muss?
“Wir sammeln Autogramme!”, riefen die Mädchen. “Wir haben schon eins von Otto und Isabel Abedi.” Isabel, verzeih mir diesen Blog, es ist alles wahr.
Als Nächstes wurden mir die Meerschweinchen vorgeführt. Aha, dachte ich. Daher die Autogramme: Schweinchenfutter. Aber nein. “Könntest du”, flüsterten sie, “auf den Meerschweinchen unterschreiben?”
Um Mitternacht klingelte es an der Haustür. Draußen stand ein ältliches Ehepaar. “Wir haben ein paar Bücher zum Signieren mitgebracht”, flüsterte der Mann. “Jetzt, wo es schön ruhig ist, ist bestimmt eine gute Zeit … ” Ich wollte protestieren, doch sie fesselten und knebelten mich und stießen mich in einen Lastwagen. Seitdem wurde ich nicht mehr gesehen.
Nun, sobald irgendwo eine unerklärliche Unterschrift von mir auftaucht, wird die Polizei sich sicher bemühen, mich wiederzufinden. Damit ich auf ihrem Revier ein paar Autogramme schreiben kann.