Weihnachten auf Madagaskar

49099559_2197497383823372_2992260597158331558_n

Bei Euch ist es ja sicherlich nicht so sehr weihnachtlich, schreibt man mir von mehreren Seiten. Mit der Sonne und allem.

Nein? Ehrlich gesagt war es noch nie so weihnachtlich.

Die Kinder reden seit zwei Monaten von Weihnachten, und die große Tragik von Madagaskar liegt darin, dass wir NICHT in den Wald auf Usedom fahren können, um einen Weihnachtsbaum zu holen. Wie werde ich diese kalten Ausflüge in den unverschneiten, matschigen Tann vermissen, wo man bei Schlagermusik mottenzerfressene ausgestopfte Frettchen besichtigen und handgehäkelte Topflappen erwerben konnte … ach, Deutschland.

Aber wir können Weihnachten auch anders, und ich werfe mich ins Zeug.

Zunächst der Adventskranz.

Wer braucht schon Tannengrün? Ich mache einen Adventskranz aus … Moment … Bambus ist zu steif, alle anderen Sträucher verwelken sofort … aah! Feuerholz. Vier Stücke leicht unregelmäßiges Holz aus der Garage in den geflochtenen Brotkorb, einen roten Schal drumrumwickeln, Kerzen draufkleben, fertig. Den kann man sogar herumtragen (auch, wenn dann jedesmal die Wichtel und Glöckchen abfallen).

Pflichtbewusst spanne ich vier Adventskalender mit Säckchen durchs Haus, Wunschzettel werden auf den Schrank geklebt (die kleine Mi wünscht sich „einen Schlitten, der von zwei Würmern gezogen wird“), und die Madegassen wundern sich.
Aber sogar hier gibt es adventliche Schokolade zu kaufen, typisch: ein holländischer Holzschuh aus schwarzer Schokolade, gefüllt mit Süßigkeiten. Aaha.

Im Eingangsbereich des Supermarkts stehen mannsgroße Plastikbäume, da hier nur Kiefern wachsen, haben auch die Plastikbäume wie Kiefern sehr lange, weiche Nadeln; statt Kerzen blinken riesige bunte Plastikschneeflocken daran. Sehr beliebt ist auch eine Art Stola aus Plastik, meine Freundin in Deutschland besaß so was in gestrickt-von-Oma, sie nannte es immer das tote Freggle, und hier hängen jede Menge tote Freggles mit Glitzereffekt in den Geschäften.

Ich schmelze Schokolade, gieße Pralinen (keine Holzschuhe) und beginne, Kekse zu backen. Leider benimmt sich Keksteig in Madagaskar wie Kaugummi: Er wird nicht knetbar, sondern zieht Fäden. Ausstecher haben wir auch keine. Im Supermarkt hängen welche in der Backabteilung: in Form von Kakteen und Eimern. Hmm. Wir besorgen uns einen Metallstreifen, und mein Mann hämmert eine halbe Stunde an einem großen Herz herum. Ich fabriziere einen Stern, der mehr einem zerknüllten Taschentuch gleicht. Und was ist das, Mama? Ein kaputter Tannenbaum? Nee, das sieht man doch, das ist ein Engel …

Die kleine Mi formt aus dem Teig sowieso lieber Weihnachtsschnecken, vielleicht helfen die dann den Würmern, den Schlitten zu ziehen …

Auf dem Blech fließen alle mühsam ausgestochenen Kekse wieder zusammen; wenn man sie herausnimmt, hat meinen einen großen Anheitskeks.

Und der Lebkuchen ist wandelbar wie ein Chamäleon: erst flüssig, dann steinhart, dann nach einem Tag in der Dose labbrig. Wir benützen einen Teil davon als doppelseitiges Klebeband. Über den Rest gieße ich Schokolade, dann merkt man nicht, dass er misslungen ist. Die Mürbekekse wollten wir mit Zuckerguss verzieren, aber wenn man zu dem Pulver Zitronensaft dazu tut, wird es zu Knetmasse und schmeckt nach abgelaufener Orangenmarmelade. Also tauchen wir die Kekse lieber in Schokolade.

Zu Nikolaus soll ich in der Schule etwas über deutsche Bräuche erzählen. Ich sage, ich würde die wahre Geschichte vom heiligen Nikolaus von Myra erzählen, und die Französischlehrerin guckt entsetzt: die mit den vom Fleischer zerstückelten Kindern, die im Salzfass eingepökelt waren und die er wieder zusammengesetzt und erweckt hat?

Äh – wie? Nein, die von den Schiffen voller Mehl und er hungernden Stadt. Davon haben die Franzosen noch nie gehört.

Ich binde die Beine der roten Hose von Mi mit einem Küchengummi zusammen und setze die Hose als Zipfelmütze auf, steige in die kniehohen Gummistiefel meines Mannes, und hier kommt der Nikolaus. Ich erzähle nicht nur, sondern wir basteln auch, Nikolausschachteln aus Tonpapier, und dann bekommt jedes Kind der 1. und 2. Klasse eine Pflaume und zwei Schokoladenfiguren. Eins von den dreien dürfen sie essen, die anderen beiden wandern in die Nikolausschachteln, die sollen sie einem armen Kind auf der Straße schenken. Lintje geht gleich los und füllt die Schachtel noch mit Sachen aus ihrem Nikolausstrumpf auf.

Zwei Wochen später frage ich die Lehrerin, ob die anderen íhre Schachteln auch verschenkt haben. Ja, noch nicht, sagt sie, sie wollen zwar, aber erst später, sie bewahren die Schachteln lieber noch eine Weile auf. Mit den reifen Pflaumen drin. Mmmm.

Auch zu Weihnachten packen wir Päckchen für arme Kinder: Lintje sagt, die haben alle so schwarze Zähne, die brauchen Zahnbürsten. Also kaufe ich im Supermarkt zwanzig Zahnbürsten und zwanzig Zahnpastatuben; die Supermarktfrau denkt jetzt, ich habe einen Zahnputztick oder so. Und Alva und ich wickeln fleißig Zahnputzzeug, Hefte und Stifte in mickeymouse-bedrucktes schreiend buntes Geschenkpapier. Die armen Kinder reißen uns die Päckchen am Weihnachtstag dann so rabiat aus den Händen, dass das Papier natürlich kaputt geht und die Zahnpastatuben nur so durch die Luft fliegen. Der Wachmann und der Polizist vor dem Supermarkt sollten uns eigentlich vor dem Ansturm bewahren, aber sie strecken lieber die Hände aus, um auch etwas abzukriegen.

Das Weihnachtsfest in der Schule muss ebenfalls gefeiert werden: Ob wir nicht mit unserem Fahrrad-Pousse den Weihnachtsmann chauffieren könnten? Natürlich. Wir ziehen dem Fahrrad die Teddyjacke der kleinen No über den Lenker, kleben Augen drauf und stecken trockene Äste in die Ärmel, dann noch einen roten Luftballon vorne dran, und fertig ist Rudolf mit der roten Nase. Hinten dran die Riksha wird in rote Betttücher gehüllt und mit Papiersternen geschmückt, nie gab es einen schöneren Weihnachtsschlitten, und alle kleinen Kinder (die zur Feier des Tages Plastikkleidchen oder Schlipse tragen) wollen darin photographiert werden.

Beim Weihnachtssingen in der Schule soll ich ein „deutsches Weihnachtslied ohne Christentum“ einüben. Also die Weihnachtsbäckerei. In Deutschland habe ich das Lied und sämtliche spießigen Schul-Versionen gehasst, hier wirkt es direkt revolutionär: Die braven Franzosen dürfen pantomimisch Eier werfen und sind begeistert, wir basteln riesige weiße Kochmützen aus Papier und schmieren uns pantomimisch mit Teig ein. Zwei Tage später soll ich mit der gleichen Klasse real Plätzchen backen. Ich erwähne jetzt nicht, was die Kinder mit den Eiern und dem Teig tun.

Über die fertigen Plätzchen gießen wir einfach Schokolade drüber, damit kann man ja alles retten.

Dann holen wir den Weihnachtsbaum aus einer Baumschule.

Er ist natürlich keine Tanne, aber so ein Ding mit Nadeln (auch am Stamm – autsch). Er ist kleiner als der riesige Topf, in dem er kommt, und wir besorgen noch zwei Babybäume für die Kinder. Nach Weihnachten werden wir sie alle drei auspflanzen, das machen wir jetzt jedes Jahr, in ein paar Jahren wohnen wir dann in einem Wald, das nennt man Aufforstung.

Dann naht das Fest. Wir bekommen Besuch von meinen Eltern, und die Kinder benehmen sich sofort alle daneben. Vielleicht sollte ich Schokolade über sie gießen …

Auf dem Platz um die Ecke unseres Hauses gibt es sogar einen Weihnachtsmarkt: 7 handgetriebene Riesenräder, fünf fußbetriebene Karussells mit Autos und Pferdchen und zehn Stände mit Sofas und Plastik-Hawaiblumen-Girlanden, auf die man sich setzen und photographieren lassen kann, MIT Weihnachtsmann, der sich neben einen setzt. Die Weihnachtsmänner sehen eher aus wie Halloweengespenster mit ihren verzerrten Gummimasken.

Ich bezahle Riesenradrunden für unsere und alle Bettelkinder, die Bettelkinder freuen sich und vermehren sich sofort, sie sind ein bisschen wie Quecksilber, lässt du eins fallen, zerspringt es in tausend andere. Natürlich müssen wir auch Zuckerwatte essen, schreiend pinkes Zeug, das die kleine Mi zur Aufbewahrung in eine Tasse ins Regal stellt. Einen Tag später ist die Watte zusammengeschrumpft und versteinert und hat quasi im Vorbeischrumpfen an der Wand, dem Regal und allem Geschirr pinke Spuren hinterlassen, die nie mehr abgehen.

Der vierundzwanzigste ist da, und ich mache, zusammen mit meiner Mutter deutschen Kartoffelsalat. Mit madegassischen Würstchen „a la Frankfort“. Wenn sie nicht schmecken, beschließen wir, gießen wir einfach Schokolade drüber.

Das ist übrigens auch so eine Überlegung wegen der Geschenke: Es gibt weder annehmbares Geschenkpapier (kotzende grinsende Mickey Mäuse müssen nicht sein) noch genügend Servietten, um die Geschenke einzuwickeln. Wir werden wohl auch die mit Schokolade …

Am 24. gehen wir in die Kirche, in die Kathedrale nämlich, wo es ein Krippenspiel für Kinder geben soll. Wir entdecken auch ein paar Engelsflügel mit Engel daran, im Dunkel eines Seitenschiffs, aber auf der Bühne singt nur ein bunt angezogener Chor. Die Säulen vibrieren von der verzerrten Verstärkung, die dekorativ darum gewickelten toten Glitzer-Freggles zittern. Ansonsten herrscht ein Kommen und Gehen wie auf einem deutschen Bahnhof. (madegassische Bahnhöfe sind ganz still, weil alle außer Betrieb)

Nach dem bunten Chor kommt noch ein bunter Chor, und danach noch einer, sie tragen verschiedene lange quietschfarbene Kutten und Krägen und singen tapfer gegen den Rhythmus des Computerorchesters an. Es muss wohl so eine Art Wettbewerb sein, bei dem alle Chöre Madagaskars darum wetteifern, wer es schafft, den Computer zum Platzen zu bringen.

Kleine Kinder in großen Plastikkleidern sitzen brav da und starren die Chöre an.

Unsere Kinder klettern über die Bänke und schaukeln am Kronleuchter.

Der Engel kommt nicht. Vielleicht hat er Angst vor den Kindern. Oder vor dem Krach. Ich erwäge, die Lautsprecher mit Schokolade zu übergießen, doch dann gehen wir nach Hause.
In Richtung unseres kleinen, lieben, eingetopften Weihnachtsbaums, durch die Dunkelheit. Doch doch, so weihnachtlich war es selten. Nur, dass das unter unseren Füßen kein Schnee ist, sondern Dreck und Matsch vom letzten warmen Regen.

Oder vielleicht, wer weiß, ist es Schokolade.

Vielleicht hat irgendein katholischer, evangelischer oder Ahnen-Heiland ganz Madagaskar in dieser Nacht mit Schokolade übergossen, um es zu retten. Jedenfalls sieht man die Probleme so nicht mehr. Man sollte das auch mit Europa tun.