Schatzsucher-Geschichten für 30-Jährige

Sehr geehrte Frau Michaelis,

Wenn sie ankommen, geben Sie links der Haustür den Zahlencode Y1237FP ein, gehen Sie durch den Vorflur und betreten sie das Zimmer zu Ihrer Linken. Im Umschlag rechts an der Pinnwand befindet sich Ihr Zimmerschlüssel. Gehen Sie nun die Treppe hinunter und betätigen Sie den roten Knopf links der nächsten Tür. Die grüne Tür im Gang dahinter ist die zu Ihrem Zimmer. Beim Verlassen des Hotels legen Sie bitte Schlüssel und das Geld in die dritte Schublade der Kommode links des Eingangs.

Solche E-Mails sind keine Seltenheit. Die Suche wird in diesem Fall dadurch erschwert, dass die Verfasserin eine Rechts-Links-Schwäche hat und offenbar rot-grün-blind ist.
Nach der Lesung am Morgen rufe ich im nächsten Hotel an. Man erklärt mir, ich fände den Hausschlüssel unter dem Briefkasten. “Ihren Zimmerschlüssel lege ich in den Sicherungskasten”, sagt die Rezeptionistin fröhlich.
Gegen Abend stehe ich auf einem viel befahrenen Radweg vor dem Hotel und ertaste ein Stück Klebeband an der Briefkasten-Unterseite. Ich knie mich hin und versuche, es unauffällig abzukratzen. Wenn man sich in kniender Position auf einem Fahrradweg befindet, stellt Unauffälligkeit ein gewisses Problem dar, doch schließlich halte ich einen Schlüssel in der Hand.
Im Sicherungskasten drinnen gähnt mir unter den Hebelchen ein schwarzes Loch entgegen. Ich strecke meinen Arm bis zur Schulter hinein und finde … leider nur etwas Geröll. Den Schlüssel orte ich schließlich im zweiten Vorraum im dritten Sicherungskasten. „Z. Nr. 10“ steht auf der Stofftasche am Schlüsselring. Zimmer Nr. 10 gibt es nicht. Kurz erwäge ich, in einem der Sicherungskästen zu übernachten, doch die Vorsehung lässt mich einen Zettel an der Tür zum Frühstückssaal entdecken. „Auch Z. Nr.10“, entziffere ich mühsam. Ich ziehe an der Tür, drücke, verzweifle – und habe eine Erleuchtung: die Schlüsselring-Tasche! Wirklich; sie enthält einen dritten Schlüssel. Ist das ein Intelligenztest für Autoren?
Im nächsten Hotel versichert man mir, man wäre abends da. Doch die Adresse entpuppt sich als Privathaus. An einer Klingel steht “Apartment”, aber mein Klingeln bleibt ungehört. Es ist spät, kalt und windig. Ich schleife mein Gepäck zu einer Telefonzelle.
“Ich warte auf Sie!”, sagt die Dame im Telefon vorwurfsvoll. “Haben Sie das Zelt gesehen?”
Zelte ich hier? Nein, Frau Lolzinger meinte das Zelt, in dem ich am kommenden Tag lesen soll. Und warum ich nicht bei „Lolzinger“ geklingelt habe? Sie hätte den Schlüssel für das Apartment. Den Namen Lolzinger höre ich zum ersten Mal.“Frühstück gibt´s hinter der vierten Tür die Straße runter”, erklärt sie. “Und hier ist eine Nachricht für Sie. Die war im Lesezelt hinterlegt.”
Auf dem Papier befindet sich neben ein paar netten Grüßen ein schwarzes Quadrat. Sicher eine verborgene Botschaft. Ich nehme eine Münze und rubble. Nichts. Ich halte das Schwarze gegens Licht. Nichts. Ich drehe es so herum und so herum, ziehe es vom Papier ab, befeuchte es mit heißem Wasser: immer noch nichts.
Am Morgen finde ich hinter der vierten Tür eine Kneipe, wo man noch nie von Frühstück gehört hat. Eben gibt man mir ratlos etwas kalten Kaffee, als der Veranstalter hereinstürzt. Ob ich seine Nachricht bekommen hätte?
“Ja”, sage ich. “Aber was bedeutet das geheimnisvolle Quadrat?”
“Dass muss das Klebeband sein, mit dem ich ihren Schlüssel fest geklebt hatte”, meint er. “Den hatte Frau Lolzinger wohl schon abgemacht.
In diesem Moment betreten zwei Herren mit vernarbten Gesichtern die Kneipe, Hutkrempen tief ins Gesicht gezogen, Regenmantelkrägen hochgeschlagen.
“Psst!”, zischt der eine mir zu. “Übermorgen! Die Lesung! Dritte Tür rechts hinter dem Regal, vor dem die silbergraue Dogge sitzt! Wenn Sie zweimal kurz bellen, wird jemand öffnen!”
“Ach so”, sage ich gelangweilt und trinke meinen Kaffee.