Kriechwurzelpioniere

Wir leben auf dem Land – seit kurzem. Natürlich ist es ein Klischee, dass Schriftsteller auf dem Land leben. Ich bin stets bemüht, alle Klischees zu erfüllen. Und eine gute Land-Hausfrau macht Dinge ein. Zunächst bekomme ich mehrere Kilo Gurken von unserem Nachbarn geschenkt, der schon lange auf dem Land lebt und wahrscheinlich keine Gurken mehr sehen kann. Die Gurken sind klein und sehen harmlos aus. Allerdings haben sie Warzen. Ich habe noch nie Gurken mit Warzen gesehen. Vielleicht sind die Gurken krank. Eine Freundin von uns ist Hautärztin, doch leider geht sie nicht ans Telefon. Ich lege die Gurken beiseite und begebe mich auf einen windigen Land-Spaziergang, um über die Gurken und ihre weitere Verarbeitung nachzusinnen. Ich komme nicht weit. Ein Mirabellenbaum stellt sich mir in den Weg und schreit: „Kuchen backen!“ Gehorsam pflücke ich Mirabellen. Aber seit wann sind Mirabellen eigentlich rot? Nun, ich setze meinen Weg fort, um über die Gurken, die Mirabellen und ihre weitere Verarbeitung nachzusinnen. Diesmal hindert mich ein dichtes Schlehengebüsch am Vorwärtskommen. Die Schlehen recken sich in bläulicher Erwartung der Sonne entgegen – nein, sie recken sich mir entgegen. Penetrant. Unübersehbar. Ich seufze und pflücke. Und mache mich auf den Heimweg, um über die Gurken, Mirabellen, Schlehen und ihre weitere Verarbeitung nachzusinnen… Aber sind das überhaupt Schlehen? Kurze Zeit später sitze ich vor einer Schale mit roten Mirabellen und dubiosen Schlehen und bekomme eine leichte Identitätskrise. Es ist keine Krise bezüglich meiner eigenen Identität, sondern eine Krise bezüglich der Identität der Früchte. Wie genau sehen Schlehen eigentlich aus? Ist das, was ich gepflückt habe, etwas ganz und gar anderes, ungenießbares, giftiges? Un-eingemachte Schlehen, das weiß jeder, müssen scheußlich schmecken. Ich beiße in eine Schlehe. Sie schmeckt scheußlich. Doch beweist das, dass sie eine Schlehe ist? Innen ist sie gelb. Ich erfüllt ein weiteres Klischee und rufe meine Mutter an.

„Schlehen“, sagt meine Mutter, „pflückt man im Oktober, nach dem ersten Frost.“ „Bei uns friert es im Oktober nicht“, sage ich. „Dann tu die Schlehen ins Gefrierfach“, sagt meine Mutter. Das ist eine gute Idee. Der Mann der Hautärztin friert jeden Oktober große Mengen von Sanddorn ein. Der geht nämlich erst von den Ästen ab, wenn es gefroren hat. Unser Freund löst das Problem, in dem er die ganzen Äste absägt und ins Gefrierfach quetscht.

„Aber es ist noch nicht Oktober“, sage ich. „Du hast JETZT Schlehen gepflückt?“ „Ich WEISS nicht“, sage ich, „ob ich Schlehen gepflückt habe. Deshalb rufe ich ja an. Sie sind außen blau und innen gelb.“ „Schlehen sind innen rot“, sagt meine Mutter. „Innen gelb sind bloß Pflaumen.“ „Oh“, sage ich. „Und wie macht man übrigens saure Gurken ein?“ „Kochen“, sagt meine Mutter.

Ich habe keine Lust, die Warzengurken alle zu kochen. Es sind so viele. Daher erfülle ich noch ein Klischee – diesmal ein Klischee der Moderne: Ich ersetze meine Mutter durch das Internet. Im Internet steht, man könnte Gurken auch kalt einmachen. Dazu muss man sie kleinschneiden und über Nacht in Salzlake einlegen. Außerdem erfahre ich, dass die Schlehe ein Pionierkriechwurzler ist. Oder war es ein Kriechwurzelpionier? In jedem Fall bin ich beeindruckt. Und überhaupt SIND Schlehen Pflaumen – im weiteren Sinne. Aber auch Wiki findet, sie sollten rot innen sein. Was habe ich nur gepflückt? Groß-Blatt-Wacholder? Schwedische Miniatur-Melonen? Ein schlechtes Schlehen-Imitat, das wir als Ersatz bekommen haben, weil unsere echten Schlehen alle nach China exportiert werden?

Ich stelle mir vor, wie der große Chinese schmettert: „Ich habe einen Traum: Jeder Chinese isst ab jetzt ein Kilo Schlehen am Tag…“ Mit diesen Worten im Ohr beginne ich, Gurken kleinzuschneiden und Mirabellenkuchen zu backen.

„Welche Farbe haben eigentlich Chinesen – ähe – Mirabellen? Außen?“, erkundige ich mich, mit dem einen Arm in Salzlake, mit dem anderen im Kuchenteig steckend, das Telefon zwischen Kinn und Schulter festgeklemmt.

„Gelb“, sagt meine Mutter. „Oh“, sage ich. „Nicht rot?“ „Nein“, sagt meine Mutter. „Aber diese anderen Dinger – vielleicht werden sie rot innen, wenn du sie einfrierst?“

Ich steige vorsichtig über die Gurken, die sich auf dem Boden des ganzen Hauses in ihrer Salzlake räkeln, und stopfe die Schlehen ins Gefrierfach. Als ich sie zwei Stunden später wieder herausnehme, sind sie gewachsen, haben Warzen bekommen und begonnen, sich grün zu verfärben. „Gurken!“, juble ich ins Telefon. „Es sind in Wirklichkeit Gurken! Ich werde sie sofort in Salzlake einlegen!“

Niemand antwortet. Ich nehme das Telefon vom Ohr. Es ist gar nicht das Telefon. Es ist eine noch-unzerschnittene Gurke. Suchend lasse ich meinen Blick über den Boden gleiten. Ich muss das Telefon in Scheiben geschnitten haben! Mit einem Aufschrei der Verzweiflung falle ich der Länge nach in die Salzlake. Ich spüre, wie ich mich ebenfalls grün verfärbe und mir Warzen wachsen. Morgen werde ich in einem Gurkenglas erwachen. Ich werde das Klischee aller Klischees erfüllt haben – und ein Photo von mir wird in der Bildzeitung strahlen: HAUSFRAU DES JAHRES MACHT SICH SELBST EIN.