Die lieben Kinder

Ich mag Kinder. Alle mögen Kinder. Es liegt im Trend. Wenn man mich danach fragt, antworte ich: “Natürlich mag ich sie. Am liebsten in einer leichten Salbeisauce an Gnocchi.”
Die lieben Kinder lachen und glauben mir nicht. Sie sind damit beschäftigt, Sofakissen auf ihren Stühlen zu stapeln. “Meinst du”, frage ich einen kleinen Jungen, “du kannst eine Stunde lang da oben im Schneidersitz sitzen!” “Na klaaaaar!”, kräht er und kickt seine Schuhe von den Füßen. Die anderen lieben Kinder tun es ihm nach. “Ich finde, ihr behaltet die Schuhe besser an”, sage ich nachdrücklich und zu spät. Ich rege mich nicht auf. Wozu auch? Ich bitte eine Lehrerin nach vorne, um für etwas Ruhe dort zu sorgen, und beginne, zu lesen. Die Lehrerin beginnt auch, zu lesen; nämlich die Klappentexte der Videos, die sie auf dem Schoss hält. Ich rege mich nicht auf. Wenn sie mich ignoriert, kann ich sie genau so ignorieren.‘
Den lieben Kindern wird es bald zu fad, die Schuhe umherzukicken. Sie falten jetzt Flieger. Ich rege mich nicht auf. Origami ist gut für die Kreativität, und den meisten Fliegern kann ich durch geschickte Ausfallschritte entgehen. Nach einer Weile beginnen die Kinder, von den Kissentürmen zu fallen.
Das Herunterfallen wird mit großem Elan betrieben. Ein liebes Kind rennt an mir vorbei, diskutiert mit der Erziehungs-desinteressierten Lehrerin, und entschwindet aufs Klo. Kurz darauf kommt das zweite liebe Kind nach vorn, diskutiert, geht aufs Klo … Ich empfehle in solchen Fällen Katheterisier-Kurse für Lehrpersonal. Doch nein, ich rege mich nicht auf, ich beobachte gelassen (denn ich liebe Kinder) wie auch das dritte, vierte und fünfte liebe Kind aufs Klo geht. Und dann – dann geht die Lehrerin aufs Klo. Ich erwäge kurz, ebenfalls aufs Klo zu gehen. Vielleicht können wir die Lesung sogar auf dem Klo fortsetzen… Jetzt werfen die lieben Kinder mit den Kissen. Betont ruhig greife ich ein und ernte empörte Schreie. Die Lehrerin kehrt nicht vom Klo zurück. Ganz hinten sitzt eine zweite und tut so, als wäre sie nicht da.‘
Ich breche die Lesung ab, ohne dass es jemand merkt. Die lieben Kinder spielen gerade Rugby mit den Sofakissen; die Füllung ergießt sich über Stühle und Boden. Ich versuche, mich davon zu schleichen – doch da habe ich nicht mit den lieben Kindern gerechnet. “Autogramme!”, schreien sie mit drohenden Gebärden. “Wir wollen Autogramme!” Ich wage nicht, zu widersprechen. Während ich hektisch meinen Namen kritzele, zünden einige liebe Kinder im Hintergrund die Bücherregale an. Ein Junge fällt mit seiner Taschensäge einen Tisch. Der Rest der lieben Kinder ist dabei, die Büchereicomputer aus den Fenstern zu werfen. Ich packe ganz leise meine Sachen und fliehe über die Feuertreppe.
Wenn man mich fragt, ob ich Kinder mag, antworte ich: “Natürlich. Am liebsten in einer leichten Salbeisauce mit Gnocchi.” Die Kinder lachen und glauben mir nicht. Sie haben recht; es ist gelogen. Ich ziehe Thymian vor.