Buddha zahnt

Wir fliegen also nach Sri Lanka, und ehe ich dort lesen muss, habe ich zehn Tage Ferien. Endlich zurücklehnen und entspannen! „Vor zehn Jahren“, sage ich im Flugzeug zu meinem Mann, etwas eingequetscht, da sich mein Sessel NICHT zurücklehnen lässt und vor mir ein ausladender Russe sitzt. „Da war ich schon mal in Sri Lanka.“ Es fühlt sich alt und weise an, das zu sagen. Damals war ich mit einem Schotten unterwegs, und, vielleicht seinetwegen, regnete es zwei Wochen ununterbrochen. Ich weiß noch, dass wir nur einen Schirm besaßen und dass der Schotte zwei Meter größer war als ich. Wenn er den Schirm hielt, befand sich – je nach Windrichtung – das regenfreie Feld mal zwei Meter links hinter ihm, mal einen Meter rechts vor ihm, und ich hoppelte die ganze Zeit um ihn herum, um herauszufinden, wo ich gehen musste. Wenn ICH den Schirm hielt, musste der Schotte auf allen Vieren gehen. Auf diese Weise sahen wir wenig von Sri Lanka.
Diesmal stehen die Zeichen günstiger. Ein Hoch auf den Klimawandel! Es regnet NICHT.
Wir fahren zwischen malerischen Teeplantagen hinauf in die Berge, nach Kandy. Dort gibt es einen See, ich erinnere mich an stille, blütenvolle Ufer, hervorragend zum Zurücklehnen und Entspannen. Der See ist noch da. An seinem Ufer führt jetzt eine Hauptverkehrsstraße entlang.
Wir finden immerhin eine schöne Pension mit Blick auf den See, und am nächsten Morgen werden wir ausschlafen und entspannen … Leider weckt uns um sechs Uhr ein Trommelkonzert vom benachbarten Schulhof. Wir verlassen die Pension mit dröhnenden Köpfen und gehen uns den Zahn-Tempel ansehen.
„Vor zehn Jahren“, sage ich, „da hatten die Tamil Tigers gerade einen Anschlag auf das Ding verübt und es wurde repariert … Buddhas heiligen Zahn hatten sie damals verlegt, glaube ich. Aber man konnte ganz entspannt im Tempelhof sitzen …“
Inzwischen ist alles schöner und neuer, nur Buddhas Zahn kann man immer noch nicht besichtigen. Dafür gibt es Bilder von seiner Geschichte. Es handelt sich um einen Stoßzahn, was uns erstaunt, und die goldene Käseglocke, unter der er weilt, ist seit langem nicht mehr hochgehoben worden. Vielleicht vererben sich die verschiedenen Könige seit Jahrhunderten einen großen Schweizerkäse, ohne es zu ahnen … Der Eingang des Tempels ist so neu, dass in den gemalten Blumen LED-Birnen leuchten. Drinnen, in der ruhigen und entspannten Atmosphäre des Buddhismus, trommeln drei junge Männer wild um die Wette. Wir fliehen zum Allerheiligsten und finden uns in einem Blitzlichtgewitter zwischen knipsenden Japanern, Thüringern und Russen wieder. Na,  da hätte auch Buddha Zahnschmerzen bekommen.
Am nächsten Tag (geweckt von Trommeln um fünf Uhr früh) fahren wir zu einem Waisenhaus für Elefanten. Ich wollte eigentlich einen adoptieren, als Spielgefährte für das Murmelkind. Doch die anwesenden Japaner, Thüringer und Russen teilen uns mit, dass das nicht geht. Dafür dürfen wir Papier aus Elefantendung kaufen (ob Oetinger darauf mein nächstes Buch druckt?) und den Tieren beim Baden im Fluss zusehen. Wir würden uns auch gerne in den Fluss legen und entspannen … aber das ist heutzutage verboten. „Vor zehn Jahren …“, fange ich an.
Nachdem die Elefanten zurückgegangen sind, zeigt uns ein Junge mit langen Wimpern den benachbarten „Ayurvedic Herbal Garden“. Dieses Kraut dort, erklärt er, ist Spargel, der wächst in Sri Lanka über der Erde, man isst die Blätter und das hilft gegen Cholesterin. Die wilde rosa Ananas  hilft gegen Blutdruck, und da auf der Palme wächst Vanille, die hilft gegen Kreislauf. In einer Hütte stehen lauter kleine Fläschchen.
„Dieses Massageöl ist besonders entspannend“, sagt der Junge mit den langen Wimpern und gießt einen großzügigen Schluck Öl über mein Gesicht. „Es wirkt direkt verjüngend …“ Er knetet eine Weile meine Nase, zieht kräftig an meinen Ohren, drückt ein paar Dellen in meine Stirn – und tritt zufrieden zurück. „Tatsächlich!“, ruft mein Mann. „Du siehst aus wie dreißig!“
„Dann dürfen SIE jetzt die Rückenmassage probieren“, sagt der Junge lächelnd. „Legen sie sich einfach dort hin und entspannen sie sich.“ Ich versuche, nicht schadenfroh auszusehen, als ein zweiter Junge mit langen Wimpern hinzutritt, um meinen Mann in Öl zu marinieren.
„Wussten sie“, fragt er, „dass viele ältere deutsche Damen Wellness-Urlaub hier machen? Massage, gesundes Essen, Baden im Fluss …“
„Ach“, murmle ich, „und ich dachte, das wären Elefanten …“
Die alten Damen, erklärt der Junge, hätten leider zunehmend Schwierigkeiten mit der Heimreise. Neuerdings gelte in Sri Lanka alles, was älter wäre als 50 Jahre, als Antiquität und dürfte nicht mehr ausgeführt werden.
Na toll. Man darf keine alten Damen mehr ausführen, keine Elefanten adoptieren, die Tempel sind restauriert, die Tamil Tigers gezähmt und es gibt keinen Regen. Vor zehn Jahren war alles besser.