Der letzte Titel

Liebe Kollegen, Ihr kennt die Kinderfrage:
“Wie machst du es eigentlich, dass die Buchseiten hinten zusammen-
kleben? Wie erfindest du die Überschrift? Und mit was für Stiften hast du das Bild vorne draufgemalt?”
Obwohl es ein Glück ist, dass wir die Bücher nicht zu tausenden zusammenleimen müssen, ist es tragisch, dass wir weder das Bild malen noch die Überschrift erfinden dürfen.
Mal angenommen, liebe Kinder, ihr schreibt  ein Buch über eine blaue Giraffe, die eine Weltreise macht. Dann ruft zehn Monate später der Verlag an und sagt: Wir haben den perfekten Titel gefunden! DER ROTE FROSCH MIT DER LUNGENENTZÜNDUNG. Solltet ihr dagegen sein, weil weder ein Frosch noch eine Lunge vorkommen, ganz zu schweigen von einer Entzündung, wird man euch antworten: “Ach, so einen kleinen Frosch wird man wohl noch reinschreiben können.” Einmal habe ich ein Buch über Christian Morgenstern geschrieben und verschiedene Titelvorschläge geliefert – lauter Wortspiele rund um “Morgenstern”. Am Ende meinte der Verlag, eigentlich sollte das Wort “Morgenstern” nun doch nicht in den Titel. Und wie hieß das Buch, als ich es kurz darauf in der Hand hielt? Kurz und knapp: “Morgenstern”. Ein andermal schrieb ich ein Abenteuerbuch für Jungs, in dem fünf Minuten lang ein blödes Pferd mit Flügeln auftaucht. Ja, auch ich bediene ab und zu Klischees, und ich bereue es bis heute, denn was ist auf dem (anbei rosanen) Cover? Erraten, ein geflügeltes Pferd.
Zu “Drachen der Finsternis” sage ich gar nichts, da kann man nur noch leise in den Hemdkragen weinen – es kommen zwar, bedauerlicher Weise, Drachen vor, jedoch keine einzige Finsternis und auch kein Der. Bei Oetinger werden meine Titelvorschläge etwas ernster genommen. Nur kann ich mir jetzt die eingefügten Adjektive nicht mehr merken. Heißt es die Nacht der verlorenen Träume? Der gefundenen? Gestohlenen? Vergammelten? “Liebe Kinder, heute geht es um die Nacht der Dingsda Träume” klingt einfach nicht gut …
Man kann sich vorstellen, wie gespannt ich vor kurzem auf den Titel meines ersten Romans für Erwachsene war. Es geht um den Regen, den Tod und ein Huhn, und der Verleger, ein kreativer Kopf, schlug überraschend vor: “Regen, Tod und Huhn”. Ich konterte mit “Huhn der Finsternis”, aber irgendwie stieß das nicht auf Zustimmung. Für gute Verkaufszahlen braucht man reißerische Titel; daher erwogen wir kurzzeitig “Die Wandermasseuse von Schwerin” und “Die Gemahlinnen der Päpstin”. Beide Titel waren leider schon vergeben. “Der Titel muss zum Cover passen”, sagte der Verleger, “nennen wir es Der letzte Regen.” Regen ist das Einzige, was auf dem Buch nicht zu sehen ist. Aber egal. Ein Freund von mir gestaltete das Cover, und ich jubilierte, da ich endlich mitreden durfte. Von da an klingelte dreiundzwanzig mal am Tag das Telefon, und ich musste entscheiden, ob der linke untere Granatapfel einen oder zwei Millimeter nach Nordosten verschoben werden sollte … “Außerdem brauchen wir ein Messtischblatt, ein Huhn und ein Hirn”, sagte mein Freund. Ich scannte das Messtischblatt und das Huhn ein – letzteres protestierte etwas. Nur bei dem Hirn hatte ich Schwierigkeiten. Ich scannte meinen Kopf, und darin befand sich … es ist mir direkt peinlich … lediglich ein Knäuel aus all meinen verworfenen Titelvorschlägen. Dort steckten sie! Das Hirn war auf Linsengröße geschrumpft und ganz an den Rand gedrängt worden, und da liegt es noch immer, gleich hinter dem rechten Auge.
Wundern Sie sich also nicht, wenn sie mein nächstes Buch lesen.