In den letzten Zügen

Man fährt gern nach Berlin. Es ist nur ein Katzensprung von Anklam; zweieinhalb Stunden hin und – nach Adam Riese – zweieinhalb zurück. Leider haben wir dieses Mal Adam Riese nicht dabei. Dafür eine Menge Einkaufstüten.
“Lass uns die Karten am Hauptbahnhof kaufen”, sage ich gegen 18 Uhr in der Friedrichstraße. “Da kennen wir uns aus.” Das ist natürlich ein Trugschluss; kein Mensch kennt sich am Hauptbahnhof aus. Aber in der Friedrichstraße kennen sich nicht mal die Bahn-Automaten aus. Sie behaupteten, alle Züge führen von Gesundbrunnen los. Auch ein schöner Bahnhof, auf dem sich kein Mensch auskennt. Allerdings ist dort auch kein Mensch. Gesundbrunnen ist ganz leer. Experten haben auf den Gleisen eine Windgeschwindigkeit von 407 km/h festgestellt.
“Ich will nicht nach Gesundbrunnen!”, jammere ich. “Der Automat erzählt Unsinn!”
“Automaten haben immer recht”, sagt mein Mann.
“Ich kann ihre Bahncard nicht lesen”, sagt der Automat zu mir.
“Das ist keine Bahncard!”, rufe ich. “Das ist meine ec-Karte!”
“Bist du sicher?”, fragt mein Mann. “Automaten haben immer recht.”
Die S-Bahn kommt zu spät. Als wir in Gesundbrunnen sind, blitzen die Anzeigetafeln so leer wir die Bahnsteige. Entweder ist der Zug gerade abgefahren oder es gab ihn nie.
“Ich warte nicht hier auf den nächsten!”, heule ich zitternd. “Wir fahren zum Hauptbahnhof!”
“Der Automat sagt, es gibt keine Bahn dahin”, beginnt mein Mann. “Automaten haben im – ”
Ich zerre ihn in die S-Bahn. Am Hauptbahnhof sagt ein anderer Automat beleidigt, jetzt gäbe es gar keine Züge mehr nach Anklam, ätsch.
“Hier steht aber einer auf dem Fahrplan!”, rufe ich. “Ausnahme: 23. April!”
Dieser Zug, sagt der Automat, fährt NUR am 23. April. Wir kämen noch bis Angermünde. In Angermünde ist noch nicht mal ein Bahnhof. Nah an zu Hause ist es auch nicht. Schließlich fahren wir über Stralsund nach Wolgast. Das ist so, als führe man von Köln über London nach Stuttgart. Um Mitternacht sind wir in Wolgast. Leider ist unser Auto in Anklam.
In Wolgast gibt es nicht nur keinen Bahnhof. Dort können sich sich nicht mal Geräusche leisten. Nur eine alte Uhr tickt. Eine Katze klettert aus einer Ruine. Wir rufen den Taxiservice an, lauschen leeren Versprechungen und rufen nach einer Stunde wieder an.
“Es gibt leider nur drei Taxen hier.”, sagt man uns, “Ein Kollege sitzt an der polnischen Grenze vor einem Bordell und wartet darauf, dass sein Fahrgast zurückkommt. Einer fährt einen Alkoholiker in die Entzugsklinik. Und ich bringe jemanden nach Berlin-Gesundbrunnen.”
Wir sammeln alle Tüten ein und wandern los. Die Nacht ist schön; gar nicht zu warm. Es ist kurz vor halb drei. Gegen vier bleiben wir stehen.
“Wo”, meint mein Mann, “wollten wir eigentlich hin? Stralsund? Angermünde? Berlin Hauptbahnhof? Anklam? Oder Gesundbrunnen?”
“Keine Ahnung”, sage ich. “Ich habe vergessen, wo wir wohnen.”