Killevipps

Wir planen, man höre und staune, einen Kurzurlaub. Die gewöhnlichen Urlaubsziele fallen diesmal flach: China ist leer, die Chinesen sind bis auf die paar verbotenen alle auf der Buchmesse, in Amerika kann man nicht mehr davor sicher sein, unerwartet irgendwelche Nobelpreise aufs Auge gedrückt zu bekommen, und auf den Mond schießen sie jetzt Raketen. „Fahren wir doch nach Schweden“, sagt mein Mann. „Da ist die Natur schon wieder weiter als hier. Die Bäume hängen voll goldener Blätter, und überall stehen Elche vor den Fenstern behaglicher rotweißer Cafés.“
Als wir von Bord der Fähre gehen, pfeift uns ein eisiger Wind entgegen. Die Natur ist wirklich viel weiter als bei uns: Die Bäume sind kahl. Elche sind keine da. Wir ziehen uns und dem Murmelkind eine zweite Pulloverschicht an und fahren zu unserem Ferienhaus an der Ostküste. „Das ist ganz kurz, alles Autobahn, wir sind gleich da“, sagt mein Mann. Doch so schnell geht es nicht, denn in Schweden ist alles kleiner. Die rotweißen Häuser sind kleiner, die Pferde sind kleiner, und die Autobahnen sind so breit wie deutsche Fahrradwege. Spät nachts finden wir unser Ferienhaus mit Hilfe der Taschenlampe und der akkuraten Beschreibung des Vermieters: Es ist rot-weiß. In der Küche gibt es noch mehr kleine Dinge: Die Saftgläser fassen 30 ml, wenn man sie bis zum Rand füllt, Suppe isst man mit Eierlöffeln, und Tee trinkt man aus einer Art Fingerhut mit Henkel. Das ist erstaunlich, denn der Schwede an sich ist nicht klein, er hat die Form eines (größeren) Schranks, was unter anderem daran liegt, dass er sich von Mayonnaise ernährt. Zum Glück finden wir zwei Blumenvasen, aus denen wir unseren Kaffee trinken können. Man muss in Schweden nämlich viel heißen Kaffee trinken: Der Wind wird jeden Tag eisiger. Wir ziehen eine vierte Schicht Pullover an, setzen dem Murmelkind eine Fellmütze auf und wandern durch die schwedische Trolllandschaft. Elche sind keine da. Am zweiten Tag ändert sich das Wetter. Es regnet jetzt. Wir verpacken das Murmelkind in einen Ganzkörpergummianzug und fahren zur Insel Öland. „Im Oktober“, sagt mein Mann, „sind in Schweden nicht nur die Blätter golden. Hier sammeln sich auch Schwärme von Singvögeln, um nach Süden ziehen.“ Na, das kann man verstehen. „Goldammern! Zaunkönige! Rotkehlchen!“, frohlockt mein Mann, „die kann man alle auf Öland sehen! Außerdem blühen dort ganz seltene Orchideen …“ Öl heißt auf schwedisch Bier, wir besuchen also eine Bierinsel. Von fleischfressenden Orchideen hat man ja schon gehört. Aber von biertrinkenden …?
Natürlich sind die Orchideen in Wirklichkeit längst erfroren. Dafür fallen die Singvögel erstaunlich groß aus. Die Rotkehlchen gleichen alle eher gewöhnlichen Gänsen. Womöglich liegt es daran, dass es welche sind … „Auf keinen Fall,“ sagt mein Mann. Wir ziehen dem Murmelkind Thermostrumpfhosen an und pilgern zu Ölands Leuchtturm, wo die Bronzeskulptur eine Ga – Verzeihung, eines hypertrophen schwedischen Rotkehlchens steht, mit Nils Holgersons Schuhen. Das mit der Gans in Frau Lagerlöfs Geschichte muss ein Übersetzungsfehler gewesen sein. Das Museum hinter dem Rotkehlchen hat von Oktober bis April zu. Überhaupt hat alles in Schweden ab dem 1. Oktober zu, das Land ist in einen verfrühten und resoluten Winterschlaf gefallen.
Das einzige, was man trotzdem besichtigen kann, sind die Schiffsetzungen auf den Hügeln am Meer. Wir versorgen das Murmelkind mit Thermo-Ohrenwärmern und begeben uns zu einer solchen, wo (nach dem 1. Oktober) Windstärke 13 herrscht, ab und zu weht eine Kuh (oder ein gansgroßes Rotkehlchen) vorbei. Elche gibt es keine. Eine Schiffsetzung ist eine Sache aus dicken, schweren Steinen, von der keiner weiß, wozu sie da war. Vielleicht waren es Gräber, vielleicht Tempel, vielleicht Sonnenuhren – oder öffentliche Klos. Die Steine stehen in einem leicht misslungenen Oval, und dort, wo beim Schiff das Steuer wäre, überragt ein höherer Fels die übrigen. Irgendwie wirken die Steine beinahe schrankförmig … Ich glaube, es handelt sich um versteinerte Schweden, erst erfroren, dann versteinert, so muss es gewesen sein. Sie haben sich auf der entsprechenden Wiese zum Öltrinken versammelt, da es jedoch ein Tag nach dem 1. Oktober war, hatte die Ölschenke bis April geschlossen. Der hohe Stein ist ein besonders großer Schwede, der dazu auserkoren wurde, nach den zurückkehrenden Schwärmen von Rotkehlchen Ausschau zu halten, die den Frühling ankündigten …