Leonard Cohens linkes Ohr

Es war einmal eine Autorin, die machte einen Fehler, den Autoren manchmal machen: Sie schrieb ein Buch. Der zweite Fehler war, darin Texte von Leonard Cohen auftauchen zu lassen. Nun wird die Verlagswelt seit kurzem vom Hegemann-Komplex geplagt. Ich persönlich wäre ja dafür, Frau Hegemann mal unerlaubt irgendwo zu zitieren … aber wen soll man wegen der Cohen-Texte fragen?
Die amerikanische Verlegerin, die das Buch auch herausbringt, verkündet, sie hätte Kontakte: Der Großcousin der Tante ihres Schwiegervaters hätte vor zehn Jahre mal beinahe ein Interview mit Herrn Leonard Cohen gemacht …
Meine Lektorin beginnt, zu recherchieren. Praktischer Weise sind die Rechte für jedes Lied bei einer anderen Agentur. Cohen selbst hat keine Rechte an seinen Texten. Oder … gibt es Cohen überhaupt nicht? Ist er ein Produkt der Musikindustrie?
Die verschiedenen Agenturen wittern natürlich das große Geld. Sie verlangen die Auflagenzahl und den Buchpreis, eine Inhaltsangabe, die Schuhgröße der Protagonisten … ich bin noch dabei, die Füße des Mörders im Buch auszumessen, da stelle ich fest, dass Cohen sozusagen übermorgen in Berlin auftritt.
Gibt es ihn doch? Vielleicht kann er mir sagen, wie wir die Rechte an seinen Texten bekommen. Wahrscheinlich muss er sie selbst vor jeder Konzertreise kaufen und der Agentur eine genaue Inhaltsangabe des Konzertes geben sowie die Schuhgrößen aller Konzertbesucher.
Ich packe eine Unterhose und einen USB-Stick ein (beides sollte man besser nicht verwechseln) und fahre nach Berlin, um mit meinem Bruder in das Cohen-Konzert zu gehen.
„Ganz einfach“, sage ich, „wir drucken jetzt hier schnell mal die englische Version des Buches für Herrn Cohen aus. Dann freut er sich und hilft uns. Und sollten ihm die Rechte an seinen eigenen Texten zu teuer werden, kann er einfach meine singen …“
Wir gehen also zum Copyshop, wir haben genug Zeit … der Copyshop kann das Dokument nicht lesen. Klar, es ist ja auch englisch … Wir gehen wieder zu meinem Bruder, um den Text anders zu speichern. Als wir das geschafft haben, meldet der Computer ein Virus, das der Copyshop auf meinem USB-Stick hinterlassen hat (besser als auf der Unterhose …) und stürzt ab. Egal, wir haben keine Zeit mehr. Noch zwei Stunden, dann beginnt der Einlass zum Konzert. Wir rennen zum Copy-Shop zurück. Mein Bruder schnappt sich das Schneidegerät und beginnt, das selbst gebastelte Cover-Blatt zurecht zu schneiden. Noch ein ein halb Stunden bis zum Konzert. Das Schneidgerät schneidet schief. Wir kleben ein annähernd dreieckiges Cover auf das viereckige Buch. Noch eine Stunde. Der Kleber hält nicht am Buchrücken. Noch eine halbe Stunde. Wo ist eigentlich die Waldbühne? Oh, sagt die Copy Shop-Frau, die ist nicht in Berlin, die ist außerhalb … Wir springen in ein Taxi, das klebrige, leicht zerknitterte Buch unterm Arm. Noch zehn Minuten. „Nehmen Sie die Autobahn!“, sagt mein Bruder, die geht schneller! „Nä“, meint der Fahrer lakonisch, „Autobahnen mag ich nicht.“
Hechelnd erreichen wir die Waldbühne. Ich hatte mir eine romantische Bühne zwischen Bäumen vorgestellt, ganz familiär, für Cohens kleine deutsche Fan-Gemeinde … die Waldbühne fasst ungefähr 50 tausend Menschen. Hm. Wir sichern uns Plätze vorne, damit wir das Buch notfalls auf die Bühne werfen können. In diesem Moment geht ein Mann an uns vorbei, der genau aussieht wie Cohen. Er schreitet die sich-füllenden Ränge ab, prüft die Akustik … ist er das? Außer uns scheint ihn niemand bemerkt zu haben … Der Mann verschwindet auf dem Klo. Wir warten lange, aber er kommt nicht wieder.
Wir fragen einen Securitymenschen. Der mustert uns ziemlich kritisch.
„Gehen Sie besser mal zum Sanitätszelt“, sagt er.
Beim Sanitätszelt finden wir die Veranstalter. „Naja“, sagt eine der Damen und beäugt das Buch misstrauisch. „Ich könnte das Ding weitergeben … natürlich“, haucht sie ehrfürchtig, „nicht IHM selbst. Ich gebe es der Garderobiere.“
Pünktlich mit Konzertbeginn fängt es an zu regnen. Mein Bruder hatte gesagt, das würde nichts machen, die Waldbühne wäre überdacht. Tja. Die Bühne schon. Man leiht uns Plastiktüten, in die wir uns wickeln. Ich brauche eine Weile, um mich an die drei zärtlich miauenden Damen auf der Bühne zu gewöhnen, aber sonst ist das Konzert sehr schön. Am schönsten ist, dass man alles auch auf einem riesigen Bildschirm mitverfolgen kann, wo es Großaufnahmen der Musiker gibt. Die nächsten drei Stunden lang sehen wir abwechselnd Leonard Cohens linkes Ohr und seine Nase.
Er sieht wirklich genau so aus wie der Mann, der und begegnet und dann in der Toilette verschollen ist. Erstaunlich: Es gibt Cohen nicht nur wirklich, es gibt ihn zweimal! Die eine Version sitzt bis heute auf dem Klo.
Wieder zu Hause, erhalte ich eine mail mit dem Buchcover. Zu meinem Erstaunen behauptet das Murmelkind steif und fest, das Cover zeige ihre Großmutter.
Das ist nicht ganz unpassend: Als ich dem Murmelkind ein Cohen-Video zeige, ruft es begeistert: „Lieder! Opa!“
Jetzt will sie dauernd, dass der Opa aus dem Computer kommt und singt …
Eine Woche später erhalte ich einen Brief von der Garderobiere. Sie bedankt sich für das hübsche Buch, obwohl sie es leider nicht lesen konnte, da es englisch war. Die einzelnen Seiten, schreibt sie, eigneten sich aber prima, um Fisch darin einzuwickeln. Von der Musikagentur haben wir nichts mehr gehört.
Lieber Leser! Freuen Sie sich auf den „Märchenerzähler“, der im Frühjahr bei Oetinger erscheint. Und wundern Sie sich nicht, wenn an manchen Stellen ZENSIERT ZENSIERT ZENSIERT steht. Vielleicht trägt das zur geheimnisvollen Atmosphäre des Buches bei.

2 Antworten auf „Leonard Cohens linkes Ohr“

  1. Sie müssten vielleicht versuchen, irgendwie nachzuweisen, dass Leonard Cohen seine Liedtexte von Ihrem Opa geliehen bekommen hat. Oder, dass die Garderobiere eine Cousine von Frau Hegemann ist (oder so ähnlich). Na, wie auch immer, ich bin nun jedenfalls ordentlich gespannt auf’s nächste Frühjahr! Herzlich, Ihr Schneck

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