Brehms kleines Tierleben

“Langsam!”, ruft mein Mann auf dem Heimweg aus der Stadt. “Die Dachskinder sind wieder da!” Dachse sind blind, taub und blöd – oder sie tun so, damit sie ungestört auf der Straße spielen können. “Kann ich jetzt Gas geben?”, frage ich nach den Dachsen. Mein Mann zeigt auf ein Schild: Otterwechsel, 8-12 und 19-24 Uhr. Mir ist unklar, ob man dort seine Otter wechseln kann (eventuell in polnische Zlotter) oder ob die Otter sich hier zum Schwimmen umziehen. Von 8 bis 12 haben sie wohl Schule (von 19 bis 24 Uhr Abendschule?), und in jedem Fall fahre ich weiter Schritttempo. Es wäre sowieso nicht schlau, schneller zu fahren; der Marder hat die Bremsschläuche gefressen. Ich liebe die Natur.
Zu Hause wollen wir die Sanddornhecke gießen. Die Sanddornhecke jedoch ist weg. “Die haben die Rehböcke auf dem Gewissen”, knurrt mein Mann. Die Rehe mögen auch die Rinde der jungen Kastanien. Wir pflanzen jeden Monat neue Bäume. Wir lieben die Natur. Resigniert begeben wir uns auf einen Spaziergang – und kommen nicht weit: Vor uns tritt ein dickes Wildschwein samt Jungen aus dem Gebüsch und bleckt ärgerlich seine Hauer. Es scheint Vorfahrt zu haben.
Wir verlassen daher den Weg und waten durch eine sumpfige Wiese, wobei wir einigen hundert Fröschen ausweichen. Frösche haben auch Vorfahrt, man weiß schließlich nie, ob sie selten sind und unter Naturschutz stehen. Wieso stellt mich niemand unter Naturschutz … ? Auf dem weiteren Weg treffen wir ein Rudel Dammwild, dessentwegen man nicht laut reden darf, und zwei Seeadler, die hoch im Baum ihre Fische essen. Einige weiße Adlerkleckse landen auf meinem Kopf.
Zu Hause will ich duschen, doch vor dem Fenster hängt ein Wespennest, und die Wespen erkunden gerade das Bad. Ich beschließe, stattdessen Kirschen zu pflücken, aber am Baum hängen keine Kirschen mehr. Eine scheinheilige Meute Stare sitzt auf dem Schuppen und macht Verdauungsgeräusche. Neben dem Komposthaufen sortiert der Fuchs den Kompost. “Könnt ihr nicht mal Fleisch wegwerfen?”, fragt er vorwurfsvoll. “Was soll ich mit diesem Gammelgemüse?” Im Flur stolpere ich über einen der Sterbekäfer, die zum Verenden zu uns kommen und dann so tun, als wären wir schuld. Er schmeißt sich auf den Rücken und röchelt theatralisch. “Gestorben wird draußen”, sage ich streng.
Auf dem Küchentisch ist eine große Nacktschnecke unterwegs. Sind wir hier der FKK-Strand, oder was? Im Schlafzimmer huschen Silberfischchen über die Wand. Ich hole den Staubsauger, um sie zu erschrecken. Die Silberfischchen fliehen von der Wand ins Bett. Morgen werde ich davon erwachen, dass sie über mich krabbeln. Oder davon, dass unser Piratenkater nach seinem Frühstück ruft. Was soll´s. Ich krieche unter die Decke, wo eine Maus weghuscht. Und während der Marder laut grölend auf dem Dachboden über mir herum hopst, surrt mich eine Armee von Mücken in den Schlaf. Ich liebe die Natur.