Buchmesse an Papageienfisch

Ich habe nichts gegen Mangas. Im Gegensatz zu meinem Mann kann ich mir sogar merken, dass sie so heißen – er spricht immer von “diesen japanischen Tangas”. Ich habe nicht einmal etwas gegen Mangafiguren – nur: Müssen sie in meiner Straßenbahn sitzen? Vorsichtig entferne ich die Spitze eines drei Meter langen Plastikzepters aus meinen Haaren, während draußen eine überfüllte Leipziger Innenstadt vorübersaust. Dann nähern wir uns dem Messegelände, und jemand steckt mir ein Pappschwert ins Ohr. Ich hatte mich ja schon an die mangaeske Überschwemmung der Buchmesse gewöhnt, aber dieses Jahr gibt es einen neuen Trend: Die Mangafiguren sind jetzt geflügelt. Es ist mir unklar, weshalb tätowierte und springerbestiefelte 16jährige Jungen den Wunsch verspüren, mit weißen Flaumflügeln von mehreren Hektar Spannweite herumzulaufen. Aber sie tun es. Und auch bei den Damen trägt man gefiedertes: Waldelfen, Science Fiction-Prinzessinnen und schwarze Todesengel hauen mir im Gedränge abwechselnd ihre Schwingen ins Gesicht. Das blasse Fleisch ihrer Bäuche quillt aus ihren eng geschnürten Kostümen, und ich muss dauernd an den Film vom Münchner-im-Himmel denken. Gegen 12 Uhr verkünde ich, ich würde eine Toilette aufsuchen, und im Verlag fragt man sich besorgt, ob ich bis zur Lesung um 4 wohl wieder da wäre. Tatsächlich ist die Schlange vor dem Klo bereits mehrere Kilometer lang. Manche Leute haben Zelte aufgebaut und kleine Lagerfeuer entzündet. Ich habe nichts gegen Mangafiguren, aber müssen sie in meiner Klo-Schlange stehen? Und dann – dann begreife ich die Flügel: Plötzlich erhebt sich ein dickes, junges Mädchen hinter mir in die Luft, flattert über die Köpfe der Wartenden hinweg und landet ganz vorne vor dem nächsten freien Klo. Schweinerei!
Abends gehe ich erschöpft mit meiner Lektorin essen. In der Barfüsser Gasse, in der Nähe des Restaurants, gab es heute schon eine Schießerei, aber man munkelt, die Leichen wären irgendwie abhanden gekommen. Angenehm gegruselt stelle ich fest, dass der Flügeltrend seinen Weg auch auf die Speisekarte gefunden hat: Es gibt Papageienfisch. Ich bestelle mutig und erhalte einen großen, weißen, wabbeligen Klops ohne erkennbare Fisch-Struktur. Zwei Flaumfedern hängen daran. Als ich mit dem Fischmesser hinein pieke, hopst der gefiederte Klops weg – quer durch den Raum. Ich hebe ihn auf und entdecke eine Tätowierung darauf. Auf einmal erinnert mich der weiße, wabbelige Papageienfisch an die weißen, wabbeligen Bäuche der eng geschnürten Manga-Schönheiten …
“Nun ja”, sagt der Koch entschuldigend. “Ich habe nichts gegen Mangafiguren. Aber müssen sie sich vor meinem Restaurant herumtreiben, wenn ich meine Ruhe haben will?” “Ich nehme an”, erkundige ich mich vorsichtig, “Sie haben die ganze Kühltruhe voll … äh … Papageienfisch?” “Mehrere Kühltruhen”, sagt der Koch zufrieden. Ich lächle still. Morgen wird es auf der Messe leerer sein.