Und jetzt ganz entspannt lächeln!

Es ist ein altes Problem. Liebe Kollegen, Ihr kennt und fürchtet es alle! Das Problem heißt: Wir brauchen ein Verlags-Photo. Liebe Nicht-Kollegen! Ein Verlag ist eine Einrichtung, die manchmal, wenn es gar nicht anders geht, Bücher druckt, oft Sitzungen abhält und IMMER Photos braucht. Nun habe ich einen Bruder, der Photograph ist. Das verkleinert das Problem nicht etwa. Es vergrößert es. Ich hätte ihn nicht fragen sollen. Ich hätte zum Greifswalder Bahnhof fahren sollen, das Auto ins Parkverbot stellen, mich in den Automaten setzen und fünf Euro einwerfen. Ich hätte mich mit dem abfinden sollen, was dieser Automat gewöhnlich ausspuckt: Ein grau-grünes, manchmal auch blau-rotes oder gelb-braunes, in jedem Fall aber farblich kreativ verändertes Abbild einer Person, die ich definitiv noch nie gesehen habe und der man höchstwahrscheinlich eine Einweisung in die Entzugsklinik empfehlen sollte wegen Cortison-Missbrauchs. Immerhin hätte ich dann behaupten können, ich wäre nicht Schuld an meinen Büchern. Jemand ganz anderer mit gleichem Namen hätte sie geschrieben.Aber ich habe mich nicht mit dem Automaten abgefunden. Ich bin selbst Schuld.
„Ach“, habe ich gesagt, „du kommst mich besuchen? Das ist schön. Können wir vielleicht ein kleines Photo machen, ganz schnell?““Hm-hm“, sagte mein Bruder am Telefon.“Jetzt wäre schön“, sagte ich am nächsten Morgen beim Frühstück. „Das Licht ist gerade so hell.““Das Licht ist zu hell“, sagte mein Bruder duster und biss in sein Ei.“Wie wäre es jetzt?“, fragte ich etwas später, im Garten. „Ist doch hübsch hier, vor den Obstbäumen.““Die Obstbäume sind als Hintergrund zu unruhig“, sagte mein Bruder und seufzte.
Gegen Nachmittag fuhren wir auf die Insel, zu einem Cafe. „Wie wäre es hier?“, fragte ich. „Die Sonne scheint gerade so nett.““Die Sonne scheint zu sehr“, sagte mein Bruder resigniert.Wir schlugen einen schmalen Pfad zwischen hüfthohen Brennesseln ein. „Hier ist es gut!“, rief mein Bruder. „Bleib genau da stehen!““Zwischen den Brennesseln?“, fragte ich.
Er schraubte an der Kamera herum. „Etwas weiter links“, sagte er und dirigierte mich in die Nesseln. „Und jetzt noch den Kopf etwas drehen – wir haben leider keinen Schirm zum Reflektieren da. Wenn du deine Hand hierhin hältst, wirft sie das Licht ein bisschen zurück.“Er adjustierte meine Hand in einer sehr un-anatomischen Stellung, drehte meinen Kopf, so dass ich schielen musste, um ihn anzusehen, und setzte die Kamera an.“Und jetzt ganz entspannt lächeln!“Ich versuchte, entspannt zu lächeln. „Du bist so verkrampft!“, sagte mein Bruder.
Ein Hund und zwei Radfahrer drängten sich auf dem engen Brennesselpfad an uns vorbei. Ich lächelte. Meine Hand schmerzte. Mein Sehnerv quietschte, vom Schielen. Die Brennesseln bissen mich durch die Hose in die Beine. Ich lächelte.“Dieses Lächeln sieht unecht aus“, sagte mein Bruder.“Bist du jetzt fertig?“, fragte ich.“Ein Photo braucht Geduld“, erklärte er. „Ohne Geduld wird es nichts.“
Wir stritten uns ein bisschen und gingen schließlich weiter, ließen die Brennesseln hinter uns, kamen ans Meer. „Dort!“, rief mein Bruder. „Dort ist das Meer so schön blau! Das nehmen wir als Hintergrund! Schnell! Wir müssen genau an diesen Platz, bevor die Sonne weg ist!“Wir hasteten eilig den Kiesstrand entlang. Eine große Wolke schob sich vor die Sonne. Wir warteten, bis die Wolke uns verließ. Im Gegensatz zu mir aber hatte die Wolke sehr viel Geduld. Mein Bruder hätte besser ein Photo von der blöden Wolke gemacht.“So“, sagte er schließlich, „das ist gut. Zieh mal das Jackett aus. Und den Schal.“Ich hängte das Jackett und den Schal über einen Baumstamm. Kalter Wind pfiff durch meine Haare.“Das ist schön für das Bild“, sagte mein Bruder. „Aber wenn du so zitterst, wird es unscharf.“Ich hielt mich an dem Baumstamm fest, um das Zittern zu unterdrücken. „Jetzt! Jetzt ist es perfekt!“, rief mein Bruder und drückte auf den Auslöser. In diesem Moment nieste ich.“Das war wohl nichts“, sagte er. „Noch einmal. Ganz entspannt lächeln, du weißt schon.“
Ich wusste schon. Ich lächelte. Eine Schulkameradin von mir hat mal bei Aldi an der Kasse gearbeitet. Sie hat erzählt, am Ende eines Kassen-Tages hätte sie vom vielen künstlichen Lächeln ihr Gesicht gar nicht mehr bewegen können.
„Du runzelst dauernd die Stirn“, sagte mein Bruder.Ich versuchte, meine Stirn zu entrunzeln. Es ging nicht.“Entspannt!“, rief mein Bruder. „Entspann dich!““Ich bin entspannt!“, schrie ich.“Du runzelst schon wieder!“, schrie mein Bruder.“Ich will das blöde Photo überhaupt nicht haben!“, brüllte ich.“Du hast eben keine Geduld!“, schrie mein Bruder.“NEIN!“, schrie ich, “ HABE ICH NICHT!““Dann lassen wir es jetzt“, sagte mein Bruder.Ich atmete auf und lächelte.“Das ist wunderbar“, sagte er. „So entspannt.“ Und drückte zum hundersten Mal auf den Auslöser. „Dieses letzte Bild nehmen wir.““Halleluja!“, flüsterte ich.
Mein Bruder packte seine Kamera ein. „Oh nein“, sagte er beim Auseinanderbauen.“Was?“, fragte ich erschöpft.“Die Batterie ist alle“, sagte mein Bruder. „Die letzten paar Bilder hat der Apparat nicht mehr aufgezeichnet.“
Am Tag darauf sollte ich in Hamburg lesen, zu meiner großen Begeisterung mal wieder in einem Einkaufscenter, mitten im Geräusch-Duell zwischen einer laut zischenden Türschließanlage und einer Durchsagestimme, die Frau Zeden in den Supermarkt zur Wursttheke bat. Ehe ich überhaupt beginnen konnte, zu lesen, kam ein langhaariger junger Mann auf mich zu. „Wenn sie sich mal hierhin stellen könnten…“, murmelte er. „Wir brauchen da noch ein Photo.“ Er drückte mich in einen roten Sessel und bog meine Beine in einem unnatürlichen Winkel über die Lehne. „Lächeln sie einfach ganz entspannt.“Ich lächelte.“Nein“, sagte er. „Jünger und dynamischer. Können sie nicht jung und dynamisch aussehen?““Ich brauche auch noch ein Bild!“, rief eine Frau von hinten. „Kommen sie mal hier rüber!“ „Ich kann jetzt nicht“, knurrte ich. „Ich bin damit beschäftig, jung und dynamisch auszusehen.“Mit diesen Worten brach ich in dem roten Sessel zusammen und wurde ohnmächtig. Der Arzt hat mir später erzählt, ich wäre mit einem verkrampften Lächeln auf den Lippen bei ihm eingeliefert worden.

Bei der nächsten Lesung haben Sie vielleicht das Pech, mich zu treffen. Vielleicht möchten Sie ein Photo von mir haben und knipsen, dezent und heimlich, während ich lese. Und wenn ich dann mittendrin anfange, merkwürdige Grimassen zu ziehen, zusammenhanglos zu brüllen oder jung und dynamisch Gegenstände auf Sie zu werfen, dann lächeln Sie einfach ganz entspannt.